Ich geh dann mal…
Heute möchte ich den Fokus auf ein Thema lenken, mit dem sich viele ungern auseinandersetzen. Das Sterben. In diesem Fall handelt es sich sogar um ein freiwilliges, selbstbestimmtes Ableben.
Es gibt kaum eine Begleitung, in der ich neben Traurigkeit und Schmerz, nicht auch Schönheit und einen Zauber erfahren darf. So auch in dieser…
Meine letzte Begleitung ist voller Berührung und ich möchte sie in die Welt hinaustragen, damit auch ihr davon berührt werdet, mit der Message: „Sterben darf sein.“
Es ist die Geschichte einer Frau (Anfang 50), ich nenne sie hier Lisa, die mich als Sterbeamme aufsuchte. Durch einen tragischen Unfall, der sich einige Jahre zuvor ereignete, war sie körperlich sehr stark eingeschränkt und lebenslang auf fremde Hilfe angewiesen. Ihr Jetzt Zustand hatte nichts mehr mit ihrem Leben vor dem Unfall gemein. Sie suchte mich als Sterbeamme auf, weil sie sich dafür entschied, in einem kaputten Körper, in ständiger Abhängigkeit durch andere, nicht mehr weiterleben zu wollen. Der Prozess der DGHS, Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, war bereits eingeleitet.
Zu dem Zeitpunkt, als sie mich aufsuchte, stand der Termin noch nicht fest, doch anhand ihrer bewusst gewählten Worte war herauszuhören, dass ich keinen Auftrag als Lebenscoach hatte. Sie brauchte niemanden mehr, der ihr durch eine heftige Krise half, denn sie war schon längst darüber hinaus. Ihre Entscheidung stand lange fest, bevor ich in ihr Leben kam.
Als wir das erste Mal telefonierten, war mir sehr schnell bewusst, dass am anderen Ende der Leitung eine sehr klare und weise Frau saß, die genau wusste, was sie tat. Sie fühlte sich durch meine Worte in meinem Blog/ Podcast sehr angesprochen und wusste, von was ich sprach, deshalb wählte sie mich als Sterbeamme, wie sie mir verriet.
Vor ihrem Unfall war sie selbständig tätig, führte eine eigene Firma und war eine Meisterin im Organisieren – sowohl beruflich wie privat. Sie liebte ihre Arbeit, das Leben, ihre erwachsene wundervolle Tochter und war sehr glücklich mit ihrem Lebensgefährten, wie sie erzählte. Sie fühlte sich nie lebendiger und zufriedener als zu diesem Zeitpunkt. Rückwirkend betrachtet, war sie am Höhepunkt ihres Lebens. Bis der Unfall geschah und sich alles für immer veränderte.
Lisas letztes Event, das sie organisierte, wurde ihr persönlicher Abschied. Anders als zur Einladung einer Geburtstagsfeier, stoß sie bei ihren Mitmenschen nicht auf große Freude und auch nicht wirklich auf Verständnis für ihr Vorhaben. Was man nur zu gut verstehen kann, denn Lisa war umringt von Menschen, von denen sie unsagbar geliebt wurde.
Nach dem Unfall verspürte sie zu ihren Engsten sogar noch eine tiefere Liebe und Verbindung als zuvor, die alles dafür taten, um sie wieder ins Leben zu holen. Doch es geschah ein Shift in ihr, den sie viel mit sich ausmachte – nur ab und zu äußerte sie ihre Gedanken. Wie durch ein Wunder überlebte sie zwar den Unfall, doch wollte sie das überhaupt – überleben, in einem kaputten Körper, angewiesen auf fremde Hilfe, ein Leben lang? Nein. Mit diesen Gedanken begann bereits ihr innerlicher Sterbeprozess.
„Nina, wärst du bereit dabei zu sein, wenn ich sterbe? Ich möchte nicht allein mit einem Juristen und einem Arzt sein, wenn ich diese Erde verlasse.“
„Ich werde da sein, Lisa!“, versprach ich ihr.
Dann begann meine Aufgabe mit Familienangehörigen zu sprechen, denn sie waren es, die sie in ihrem heiligen, intimen Moment dabeihaben wollte. Gleichzeitig konnte sie ihre Liebsten verstehen und wollte niemand dazu drängen, dabei zu sein, wenn sie für immer ihre Augen schloss.
Es folgten viele Gespräche mit Lisa und ein schönes Treffen, zusammen mit ihrem wundervollen Lebensgefährten. Als der Termin feststand, wurde sie nervös und bekam eine Art „Reisefieber“, wie ich es nenne. Sie war noch nicht so weit und verschob den Termin noch einmal. Dieser Aufschub war entscheidend für sie, denn sie wollte noch einige weise und wichtige Worte an Freunde und Familie richten, um ihre Liebe und Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, um in Frieden gehen zu können.
Eine unglaublich mutige Frau. In vollkommen klarem Bewusstsein. Selbstbestimmt zu gehen, weil es reicht. Sie war fertig. Das Leben war gelebt und sie war dankbar für die Zeit. Der Kokon, der ihr einst diente, war zu eng und unbequem geworden. Es wurde Zeit, ihn abzulegen.
Als der Tag gekommen war, wechselte sie einen Tag zuvor ihr Profilbild. Darauf zu sehen: Eine wunderschöne Frau, die barfuß davongeht, irgendwo im Nirgendwo. Lisa. Sie war bereit.
Wir telefonierten noch einmal, klärten die letzten Dinge und dankten einander. Kurz darauf ertönte eine Handynachricht. Sie schickte mir noch ein besonderes Lied, welches sie für morgen wählte und ihrem Herzen entsprach. Als die ersten Töne erklangen, breitete sich bereits ein warmes Gefühl in mir aus. Wie sehr es doch zu ihr passte…
Magie und Nervosität lag in der Luft, als ich die Wohnung am Tag ihrer Abreise betrat. Mein Herz machte einen Freudensprung, als ich sah, wie viele ihrer Liebsten dort versammelt waren, um Lisa persönlich Adieu zu sagen. Es wurde ein besonderes Abschiedsfest ganz nach ihrem Geschmack und es trug ihre Handschrift. Sie war umringt von lieben Menschen, die allesamt noch berührende Worte an sie richteten. Es wurde gesungen, abwechselnd gelacht und geweint. Alle Emotionen überschlugen sich und wurden mit unendlicher Liebe getragen. Selbst der Arzt und Jurist waren sehr berührt und erfüllten ihre Aufgabe mit Würde und Respekt – ohne Druck. Lisa bekam so viel Zeit wie sie brauchte und wurde, wie in den Vorgesprächen, immer wieder darauf hingewiesen, dass sie sich jederzeit umentscheiden kann. Doch jeder im Raum wusste, was sie wollte.
Als sie soweit war, folgten ihr alle zu ihrem Platz, den sie sich für ihren Abschied aussuchte. Keiner überlegte mehr, ob er das jetzt kann oder nicht. Alle wollten bei ihr sein.
„Child of Love Lisa“ wurde mit ihrem Lied in den Schlaf gesungen und durfte in den Armen geliebter Menschen hinübergleiten…. Würdevoller kann man nicht gehen.
Was sie hinterließ, war unendliche Dankbarkeit und Demut. Denn ihr Dasein war ein Geschenk sowie ihr selbstbestimmtes, natürliches Gehen.
Ja, es war ein natürliches Gehen, auch wenn viele das anders sehen würden, da sie in deren Augen ihr Leben vorzeitig beendet hat. Doch wer sagt, dass es vorzeitig war? Man könnte genauso gut sagen, sie hat die zweite Chance wahrgenommen, um „nach Hause“ zu gehen – nach ihrer Art.
Wenn man aus dem egobehafteten Urteilen heraustritt, kann man sehen, dass es sich immer um einen natürlichen Verlauf handelt, egal wie jemand geht. Ob es ein abrupter Abgang ist wie durch einen Unfall – oder ob es sich um ein Sterben durch eine Krebserkrankung in einem Hospiz/Palliativstation handelt oder durch einen selbstbestimmten Freitod. Das Sein, DAS, was wir sind, verabschiedet sich stets auf unterschiedlichste Weise und kein Ableben ist besser oder schlechter.
Auch die Art, wie wir in die Welt hineingeboren werden, findet auf unterschiedliche Weise statt. Es kann eine spontane und schnelle Geburt sein, ein schweres, kompliziertes Ankommen oder auch ein geplanter Kaiserschnitt. Geburt und Sterben sind vollkommen natürlich und sich sehr ähnlich. Sie obliegen beide einer gewissen Magie, einem heiligen Moment – sowohl beim ersten wie beim letzten Atemzug.
Wenn man ein Baby betrachtet, sieht man neben dem süßen, winzigen, auf Hilfe angewiesenen Menschlein auch etwas, was vollkommen ist, was es mitbringt, ohne dass es geboren wurde. Es ist DAS, was nicht stirbt. DAS, was wir sind. DAS, was während des Lebens, den Körper belebt. Die große Täuschung, Verwirrung findet mit der Identifikation des Körpers statt und dessen Geschichte. Doch das ist Teil des Spiels.
Der Körper altert im Laufe der Zeit, kommt vielleicht schon krank auf die Welt oder erleidet einen Schaden durch einen Unfall. Egal welche Geschichte das Leben schreibt, es nimmt stets seinen eigenen natürlichen Verlauf.
Wenn in unseren Augen schreckliche Dinge geschehen, die nicht hätten geschehen dürfen, leiden wir, weil wir das große Ganze, den natürlichen Lebensfluss dabei ausblenden, ihn weder verstehen noch integrieren und dadurch das (Ur-)Vertrauen verlieren. Wir denken, dass etwas schiefgelaufen ist, dass wir das Geschehen hätten verhindern können. So macht es den Anschein. Und wenn wir in diesem hängen bleiben, verengt und verschleiert sich unsere Sicht. Es fällt uns schwer, durch den Nebel zu sehen und so nehmen wir das Leben oft in Schwere und Anstrengung wahr.
Was mich am meisten erstaunt ist, wie sehr wir in unserer Gesellschaft das Sterben ausblenden – als würde es nur bestimmte Menschen betreffen, der Rest bleibt hier auf Erden für immer und ewig. Wir sind tagtäglich damit beschäftigt an unserer egobehafteten Scheinwelt weiter zu bauen, um noch erfolgreicher, sichtbarer und besonderer als die Konkurrenz zu sein und wundern uns dabei über eine steigende Anzahl an psychisch Erkrankten?!? DAS ist krank!
Das Sterben hat kaum einen Platz in unserer Gesellschaft und wisst ihr warum? Weil das ganze aufgebaute Kartenhaus (unsere Geschichten), welches wir angeblich sind und was wir alles erreicht haben, dann in sich zusammenfällt. Der Tod nimmt alles weg, was wir nicht sind! Und davor fürchtet sich das Ego.
Auch wir werden es spüren, wenn wir fertig sind, unsere Geschichte zu Ende gespielt ist und es Zeit ist, die Party zu verlassen. Wir wissen nicht, wie lange wir noch hier sind, deshalb haltet euch nicht mit unwichtigen, niedrigschwingenden Dingen/Menschen auf, die euer Ego füttern statt eurer Seele!
Die Länge der Geschichte ist nicht relevant, darüber habe ich oft genug schon geschrieben.
Einen leichten Wandel (der dem allgemeinen Bewusstseinswandel geschuldet ist) nehme ich jedoch wahr, was unsere Sterbekultur betrifft. Allerdings mit viel Luft nach oben. Zumindest müssen wir (in Deutschland) nicht mehr Nachbarländer aufsuchen, um selbstbestimmt auf humane Art zu sterben, wenn das Leben auf lange Sicht als nicht mehr lebenswert empfunden wird. Seit 2020 wurde vom Bundesverfassungsgericht das Verbot der Suizidhilfe endlich aufgehoben.
Es tut sich was und es ist spürbar, dass sich in der westlichen Sterbe- und Bestattungskultur in der Neuen Zeit, noch vieles verändern wird. Manche Trauerfeiern sind schon um einiges aufgelockert und werden als solche nicht mal mehr betitelt. Daraus werden Erinnerungs- oder Lebensfeiern. Natürlich wird dort auch viel geweint, ganz klar, die Playlist mit Lieblingssongs werden gespielt, Bilder des/der Verstorbenen werden gezeigt, an Orten mit Menschen, die für ihn/sie wichtig waren. Es wird auch viel gelacht, sogar getanzt. Kleider des/der Verstorbenen werden von Freunden getragen. Alles erlaubt. Getrauert wird noch genug.
Dieser Beitrag soll dich nicht traurig stimmen, eher zu einem bewussten, wachen Leben anregen. Selbstbestimmt, egal in welchem Lebensabschnitt! Ich möchte, dass wir das Sterben nicht ausklammern, sondern integrieren, damit wir uns (als Mensch) unserer Endlichkeit bewusst werden und mit Demut dem Leben begegnen. Das bedeutet nicht, dass ihr euch das Leben verbieten sollt – ganz im Gegenteil! Das Leben lädt dich jeden Tag dazu ein, es zu entdecken. Lass es rein!
Statt immer das Beste rauszuholen, um dich und dein Leben zu optimieren, schaue doch einfach nur hin, was es für dich bereithält.
Was, wenn DAS, WAS IST, alles ist, um was es stets geht?
Was, wenn im Unvollkommenen, alles vollkommen ist?
Was, wenn sich im Leben alles von allein hinzufügt und ent-wickelt?
Von Augenblick zu Augenblick.
Für Lisa.
Chapeau.
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Wer genaueres über die DGHS „Deutsche Hilfe für Humanes Sterben“ wissen möchte, hier der Link:
-oneLove-